Zusammenfassung/Abstract:
Wie stellen sich moderne, professionelle Fußballmannschaften auf die Veränderungen ihrer Umwelt und den Wandel iherer eigenen Strukturen ein? Was sind die Bedingungen für den Erfolg einer fußballerischen Unternehmung? Auf Grundlage einer wissenssoziologischen, entscheidungsbezogenen Organisationstheorie gelingt es, mit Hilfe der zentralen Unterscheidung von impliziten und expliziten Wissensstrukturen die unentscheidbaren Entscheidungsprämissen einer Organisation aufzuzeigen. Dass gerade die unentscheidbaren Entscheidungsprämissen als maßgeblich für den Erfolg einer Fuballmannschaft angesehen werden müssen, kann am Beispiel der Entwicklung der deutschen Nationalmannschaft vor der WM 2006 exemplarisch gezeigt werden.
Dieser Artikel ist Rahmen der Veranstaltung “Organisationswissen” bei Dr. Petra Hiller an der Universität Bielefeld entstanden.
Den kompletten Artikel findet ihr hier:
Inhalt
Einleitung
1. Die Organisation der deutschen Nationalmannschaft
2. Formale Strukturen der Organisation
2.1 Das explizite Wissen der Organisation
3. Zwei Seiten einer Medaille: Operative Geschlossenheit
4. Implizite Wissensstrukturen der Organisation
5. Sensemaking der deutschen Nationalmannschaft
5.1 Die Veränderung der kognitiven Organisationsstrukturen
5.1.1 Identität: Eigenerwartung
5.1.2 Image: erwartete Fremderwartung
5.1.3 Neujustierung von Identität und Image
5.2 Integration des Schemas: Organisationales Sensemaking
5.2.1 Wechselseitige Verstärkung
5.3 Bedeutung von Interaktion
6. Fazit
Literatur
Einleitung
?Wir müssen jetzt erstmal nachdenken. Nachdenken bedeutet, dass man über alles mögliche nachdenkt” (Dieter Hoeneß).
Wie kann man den Erfolg einer Fußballmannschaft aus organisationstheoretischer Perspektive erklären? Wollen Fußballmannschaften erfolgreich sein, müssen sie sich an die andauernde Veränderung ihrer Umwelt anpassen und sich selbst verändern. Organisationaler Wandel scheint der Schlüssel für den sportlichen Erfolg zu sein (vgl. Neumann 2003, Friedrichsen/Löhe: 2007). Denn nicht nur das Personal wird in unglaublich kurzen Intervallen gewechselt, auch die Taktik und die Hierarchie unterliegen permanenten Veränderungen. Ich betrachte in dieser Arbeit die deutsche Nationalmannschaft als Organisation und frage, warum es so schwierig ist, erfolgreichen organisationalen Wandel zu realisieren. Trotz aller Bemühungen und extensiven Nachdenkens ist der Wandel kaum planbar und der Erfolg bleibt häufig aus, ohne dass die Verantwortlichen wirklich sagen könnten, wo die Fehler liegen. Verkürzt stellte dies schon Otto Rehagel mit einem bekannten Bonmot fest: ?Geld schießt keine Tore.? Im Anschluss daran lautet die hier zu verhandelnde These, dass sich der organisationale Wandel vor allem deshalb als problematisch erweist, weil in der strategischen Entwicklung der Organisation zu wenig Wert auf die Veränderung der impliziten Wissensstrukturen der Organisation gelegt wird.
Um meine These zu stützen werde ich ein erfolgreiches Beispiel heranziehen: Das deutsche ?Sommermärchen?. Hier gelingt es, exemplarisch zu zeigen, dass gerade die Strukturen abseits der formalen Organisation für den Erfolg der deutschen Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft 2006 ausschlaggebend sind. Eine zugespitzte Darstellung der Entwicklung findet sich im Film von Sönke Wortmann ?Deutschland ein Sommermärchen?, welcher hier als Datengrundlage herangezogen wird. Darüberhinaus werde ich Ausschnitte eines Interviews diskutieren, welches mit Jürgen Klinsmann anlässlich seiner Vorstellung als Bundestrainer im Jahre 2004 geführt wurde.
Im ersten Schritt werde ich eine Begriffsbestimmung der Organisation vornehmen. Im Anschluss werden die formalen Strukturen der deutschen Nationalmannschaft beschrieben und als explizite Wissensstrukturen beobachtet (2), wobei hier kritisch zu fragen ist, ob organisationaler Wandel mit einem Modell der formalen Organisation hinreichend beschrieben werden kann. Nachdem ich die Konsequenzen der Prämisse operativer Schließung diskutiert habe (3), werde ich auf die Funktion impliziter Wissensstrukturen eingehen (4) um ihre Bedeutung für den erfolgreichen organisationalen Wandel der deutschen Nationalmannschaft herausstellen zu können (5). Abschließend werde ich die Ergebnisse zusammenfassen (6).
1. Die Organisation der deutschen Nationalmannschaft
Ich denke, dass es für die Diskussion der These ausreichend ist, einen einfachen Begriff der Organisation zu Grunde zu legen. Nach Luhmann (2006: 112ff) ist die Frage der Mitgliedschaft die zentrale Unterscheidung, die es der Organisation ermöglicht, sich von ihrer Umwelt abzugrenzen und ein eigenständiges Sozialsystem zu bilden. Mit der Unterscheidung zugehörig/nicht zugehörig kann die Organisation ihre autopoietische Reproduktion (siehe Kap. 3) aufnehmen. Diese einfache Unterscheidung ermöglicht es, die Nationalmannschaft als Organisation zu beobachten. Nicht nur für die Spieler, auch für den Trainer- und Betreuerstab kann diese Unterscheidung ohne weiteres angewandt werden.
2. Formale Strukturen der Organisation
Luhmann (2006) beschreibt Organisationen anhand drei entscheidbarer Entscheidungsprämissen: Personal- Programm- und Kommunikationsstruktur. Im folgenden möchte ich kurz auf diese formalen Strukturelemente der deutschen Nationalmannschaft eingehen. Dabei richte ich den Fokus auf die Mannschaft und den Trainer- und Betreuerstab und verzichte aus Gründen der Übersichtlichkeit auf die Einbettung der Mannschaft in die Verbandsstrukturen des Deutschen Fußballbundes (DFB).
Programmstruktur: Entscheidungsprogramme der Organisation sind diejenigen Entscheidungsprämissen, die ?die regulativen Bedingungen für richtiges (oder im anderen Falle: fehlerhaftes) Entscheiden? (ebd. 225) vorgeben. Hier wären vor allem die Taktik und die Gestaltung des Trainings zu nennen, welche aus zum Teil detaillierten Vorgaben für angemessenes Entscheiden bestehen. Es handelt sich dabei um entscheidbare Entscheidungsprämissen, da die Organisation selbst über diese Prämissen entscheiden kann, ja muss.
Kommunikationsstruktur: Die Kommunikationsstrukturen der Organisation schreiben ?die Kommunikationswege vor, die eingehalten werden müssen, wenn die Entscheidung als solche bei der Organisation Anerkennung finden soll? (ebd. 225). So muss die Kommunikationsstruktur der Nationalmannschaft als vergleichsweise streng hierarchisch beschrieben werden. Das gilt sowohl für die Hierarchie innerhalb der Mannschaft, die sich vom Kapitän über Stammspieler hin zu Ersatzspielern differenziert, aber auch für den Trainer- und Betreuerstab, wo der Bundestrainer über die letztinstanzliche Entscheidungsgewalt verfügt. Auch über diese Entscheidungsprämisse kann die Organisation entscheiden.
Personalstruktur: Das Personal selbst kann als Entscheidungsprämisse angesehen werden, unter der Annahme, dass verschiedene Personen unterschiedlich entscheiden werden (vgl. ebd. 289). Nirgends ist dies wohl so deutlich wie im Fußball, wo der Unterschied für die Organisation besonders hervor tritt, sobald das Personal ein anderes ist. Die Bedeutung die einem Trainer oder den Spielern beigemessen wird, ist enorm. Entscheidbar ist diese Entscheidungsprämisse, weil die Organisation selbst entscheiden kann, wer in den Kreis der Nationalspieler eintreten darf, wer Trainer ist und wer zum Betreuerstab gehört.
2.1 Das explizite Wissen der Organisation
Die Entscheidungsprämissen sind der Organisation bekannt und deshalb auch von ihr entscheidbar. Sie können analog als explizites Organisationswissen beobachtet werden (vgl. Hiller 2005: 40f). Dieses explizite Wissen wird in der Regel auch als Maßstab für die Bewertung einer Organisation herangezogen und auf dieser Grundlage werden dann Strategien für das Erreichen des Erfolgs entwickelt. Strategische Planung organisationalen Wandels ist dann nur durch Änderung der formalen Strukturen zu erreichen, indem Entscheidungen über Entscheidungsprämissen getroffen werden (vgl. Luhmann 2006: 230f).
Wie oben gezeigt wurde, lassen sich die Wissensstrukturen einer Organisation so auf explizierbare Phänomene bringen (Training, Taktik, Datenbanken, Hierarchien, Qualifikationen, usw.). Organisationale Elemente abseits formaler Strukturen brauchen daher nicht im Aufbau der Theorie berücksichtigt zu werden.
An dieser Stelle möchte ich aber auf die mangelnde Erklärungskraft einer auf formale Strukturen beschränkten Analyse hinweisen. Denn kann man auf diese Weise die enorme Bedeutung für die Organisation erklären, die einem Trainerwechsel oder dem in Deutschland so beliebten ?Führungsspieler? zugerechnet wird? Kann man mit dieser theoretischen Prämisse verdeutlichen, warum die besten Trainingsmethoden scheitern oder warum eine klare Hierarchie noch nicht der Garant für eine gutes ?Mannschaftsklima? ist? Ich denke nicht.
Um diesen Einwand erklären zu können, ohne eine theoretische Unschärfe zu riskieren, sei an dieser Stelle auf die Bedeutung der operativen Geschlossenheit sozialer Systeme eingegangen.
3. Zwei Seiten einer Medaille: Operative Geschlossenheit
Denkt man die Theorie operativ geschlossener Systeme mit all ihren Prämissen bis zum Schluss durch, dann kann und muss man in Kauf nehmen, ?dass soziale Systeme, also auch Organisationen, nicht wahrnehmen können? (Luhmann 2006: 119). ?Der Begriff der ?Person? wird (dementsprechend) als Autor, Adresse und Thema des Kommunikationssystems gesehen. So entsteht die Bezeichnung einer Seite der Form, die auch noch eine andere Seite hat, die aber intransparent bleibt? (Luhmann 2006: 89f, meine Einfügung). Das wahrnehmende, denkende Individuum verbleibt in der Umwelt der Organisation. Das heißt aber nicht, dass die Kommunikation von seiner Umwelt unabhängig sei. Ganz im Gegenteil: Die Organisation ist auf die Wahrnehmung der Individuen genauso angewiesen, wie eine intakte ökologische Umwelt nötig ist, damit Kommunikation überhaupt prozessieren kann. Diese Trennung von Bewusstsein und Kommunikation ist vielfach auf Ablehnung gestoßen und hat der Systemtheorie den Ruf der Unmenschlichkeit eingebracht (Diese Kritik rezipierend: Luhmann 1995a u. ders. 1995b) . Allerdings büßen Analysen, die keine Scharfe Trennung von Kommunikation und Bewusstsein mitführen, eine Menge an Erklärungskraft ein, weil die Eigenlogik der Kommunikation und die spezifischen Leistungen der Wahrnehmung nicht reflektiert werden können. Auf der anderen Seite haben Verfechter dieser Unterscheidung (siehe Luhmann 2006) sich vielfach zu sehr auf die Seite der Kommunikation geschlagen und Theorien entwickelt, die das wechselseitige Verhältnis und die Bedingtheit von Kommunikation und Wahrnehmung aus dem Auge verloren haben. Die Kritik aus beiden Lagern lässt sich an dieser Stelle nun durch eine Präzisierung der These aufnehmen. Denn das Verhältnis von Kommunikation und wahrnehmendem Bewusstsein wird in der soziologischen Systemtheorie als strukturelle Kopplung beschrieben (vgl. Luhmann 1990 u. ders. 1997). Dadurch lassen sich die wechselseitigen Bedingungen und Bestimmungen erklären, ohne dass ein Determinismus auf einer der beiden Seiten festgestellt werden kann. Hiller stellt (2005: 29) im Anschluss an Luhmann (1990 u. 1997) fest, dass es somit möglich wird, ?die Bedeutung kognitiver Schemata im Rahmen einer kognitionsorientierten Organisationssoziologie zu beschreiben und ihrer Funktion nach bestimmbar zu machen?. Gerade die Seite der Form ?Person?, die für die Organisation intransparent bleibt, also die schematisierte Wahrnehmung der Organisationsmitglieder, muss als unentscheidbare Entscheidungsprämisse der Organisation in die Diskussion über den Erfolg organisationalen Wandels mitgeführt werden (Hiller 2005: 42f). So wird einerseits dem Vorwurf der ?Entmenschlichung? entgegengewirkt, und andererseits ein komplexeres, erklärungsreicheres Bild von der Organisation möglich ohne, dass dabei die trennscharfe Unterscheidung von Kommunikation und Wahrnehmung aufgegeben wird.
4. Implizite Wissensstrukturen der Organisation
Was bedeutet ?Persönlichkeit? für die Organisation? Und wie kann man dies für die Organisationstheorie fruchtbar machen? Hiller (2005) schlägt hierfür das Konzept des impliziten Organisationswissens vor, wodurch die Wahrnehmung der Organisationsmitglieder und die organisationalen Sensemaking-Prozesse als unentscheidbare Entscheidungsprämissen der Organisation in die soziologische Organisationstheorie eingeführt werden. Und genau diese spezifisch schematisierten Wahrnehmungsleistungen der Organisationsmitglieder kann man als ?Persönlichkeit? bezeichnen. Wobei dies auf der einen Seite mit dem Begriff der ?Person? nicht mehr fassbar wäre und auf der anderen Seite trotzdem abgesichert ist, dass ?Persönlichkeit? etwas genuin soziales ist. Denn ?individuelle Erkenntnissprozesse werden in Organisationen nur insofern relevant, als sie in das Kommunikationssystem der Organisation Eingang finden, das unter sozialen Gesichtspunkten selegiert, was als organisatorisches Wissen weiterverwendet wird? (ebd. 38).
Durch die Beobachtung der Differenz von explizitem und implizitem Wissen bekommt man die Schemaabhängigkeit jeglichen Entscheidens in den Blick. So behalten oben genannte formale Wissensstrukturen der Organisation weiterhin ihre Bedeutung, allerdings liegt eine neue Gewichtung vor. Denn ?nicht die formalstrukturellen, sondern die unentscheidbaren Entscheidungsprämissen bestimmen die evolutionäre Reproduktion der Organisation? (ebd.: 8).
Um die Bedingungen für den Erfolg des organisationalen Wandels einer Fußballmannschaft in den Blick zu bekommen, muss man also auch analysieren wie die Mannschaftmitglieder anhand impliziter Theorien und Beobachtungsregeln Realitäten erzeugen, Bedeutungen zuschreiben, Sinn produzieren und somit Wissensstrukturen der Organisation aufbauen (vgl. ebd. 9f).
5. Sensemaking der deutschen Nationalmannschaft
Um nun die unentscheidbaren Entscheidungsprämissen des organisationalen Wandels der deutschen Nationalmannschaft in den Blick zu bekommen, werde ich im folgenden die zentralen Schematisierungen benennen, die darauf stattfinden Sensemaking-Prozesse analysieren und im Anschluss zeigen, inwiefern sich die Wechselwirkung von Kommunikation und Kognition an diesem Beispiel bestätigen lässt.
5.1 Die Veränderung der kognitiven Organisationsstrukturen
Will man den Wandel einer Organisation durch die Neuausrichtung ihrer kognitiven Strukturen beschreiben, muss als erstes gezeigt werden, welche Schematisierungen für den organisationalen Wandel für die Organisation von Bedeutung sind.
?Die Fans, so glaube ich, haben den großen Wunsch, die große Hoffnung, dass wir 2006 Weltmeister werden. Und das ist dann auch meine Zielsetzung?(Jürgen Klinsmann beim Amtsantritt als Bundestrainer). Das Ziel Weltmeister zu werden ist das zentrale Leitschema der Organisation während der Ära Klinsmann, weil dies die Identität der Organisation bildet.
5.1.1 Identität: Eigenerwartung
?Organisationale Identitätsentwürfe sind kollektive Selbstbeschreibungen und als solche beobachtungsabhängie Konstruktionen(…)?, die ?(…) den Kern der organisationalen Wissensstruktur (…)? bilden (Hiller 2005: 30). Die Selbstbeschreibung der deutschen Nationalmannschaft vor dem Amtsantritt Klinsmanns im Jahre 2004 und ihrer Fortschreibung bis zur Weltmeisterschaft führen in ein weiteres sportliches Versagen. Alte Spieler mit überholter Ausbildung in einer zerrütteten, hierarchielosen Mannschaft, die mit gestrigen Trainingsmethoden für immer den Anschluss verloren hat, zeichnen ein äußerst deprimierendes Bild der Organisation. Diese tautologische Selbstbeschreibung der Organisation führt zu Stagnation, was in diesem Fall zur Eigenerwartung eines weiteren Absackens im internationalen Vergleich führt. Auf diesen Zustand geht Klinsmann aber nur indirekt ein.
5.1.2 Image: erwartete Fremderwartung
Die erwarteten Fremderwartungen (vgl. ebd.) spiegeln dabei ein disparateres Bild wider. Die Fans wünschen sich zwar von einer deutschen Nationalmannschaft grundsätzlich, dass sie Weltmeister wird. Und die Bedeutung einer Weltmeisterschaft im eigenen Land verstärkt dieses Bedürfnis zusätzlich. Die Erwartungen und das Zutrauen stimmen damit aber nicht überein, weil der Ist-Zustand der Mannschaft dazu keine Veranlassung gibt. Es lassen sich also zwei widersprüchliche Positionen erkennen.
5.1.3 Neujustierung von Identität und Image
Mit dieser Vorarbeit, wird es möglich, ?Veränderungen der kognitiver Organisationsstrukturen als Prozess der Neujustierung von Identität und Image zu rekonstruieren? (vgl. ebd.). Hierfür möchte ich auf die Semantik der Äußerung noch ein wenig detaillierter eingehen. Denn es wird mit einer Entwicklung der Organisation im zeitlichen Horizont gearbeitet, die in dem Ziel enden soll, dass die Mannschaft 2006 Weltmeister werden soll. Die Identität der Organisation wird von einer tautologischen Selbstbeschreibung hin zu einer paradoxen Selbstbeschreibung verändert: Ich bin, was ich (noch nicht) bin. Und hier wird besonders deutlich, warum die Persönlichkeit für die Organisation so bedeutend ist, weil die Beobachterabhänigigkeit von Identität und des Images immer die Auswahl einer bestimmten Seite einer Form voraussetzt. Klinsmann optiert hier für den Wunsch der Fans, der als Image-Beschreibung für die zukünftige Entwicklung dienen soll und setzt diesen mit der Identität gleich. Das Auflösen von Widersprüchlichkeiten zwischen Identität und Image und den dadurch evozierten Umbau der kognitiven Struktur kann man mit Hiller (2005: 32) als Organisationslernen bezeichnen.
5.2 Integration des Schemas: Organisationales Sensemaking
Die Bedeutung dieses Schemas für das Sensemaking der Organisation und somit für den Erfolg der deutschen Mannschaft kann nicht genug hervorgehoben werden. Denn alle Organisationsmitglieder nehmen die an sie adressierten diskrepanten Leistungserwartungen wahr. Ein Ausweg für sie bietet sich nun genau darin, ihre eigenen Sensemaking-Prozesse mit dem formulierten organisationalen Ziel zu framen und dem organisationalen Wandel (neues Training mit Gummibändern, amerikanischer Fitnesstrainer, junge Spieler, neue Hierarchie, etc.) dadurch Sinn zu verleihen. Daher ist davon auszugehen, dass die Zielformulierung nicht unbedingt nach außen gerichtet ist, sondern die primäre Intention darin zu sehen ist, den strukturellen Wandel der Organisation voranzutreiben und Bedeutungsstrukturen für den organisationalen Sensemaking-Prozess bereit zu stellen, indem ein tragbares Schema vorgeschlagen wird.
5.2.1 Wechselseitige Verstärkung
Eine erfolgreiche Etablierung eines organisationalen Schemas kann aber nur dann geschehen, wenn sich das zukünftige Bild der Organisation auch kommunikativ in der Organisation durchsetzt und über alle Ebenen getragen wird. Die Sensemaking-Prozesse müssen die Grundlage für anschlussfähige Entscheidungen bieten. Dann ergibt sich aber eine verstärkende Struktur, indem sich Kommunikation und Wahrnehmung wechselseitig verstärken. Unter der zentralen Unterscheidung Nutzen für das Ziel der Weltmeisterschaft/Kein Nutzen für das Ziel Weltmeisterschaft werden alle folgenden Entscheidungen getroffen. Und hier kommt die besondere Tragweite dieser impliziten Wissensstruktur zur Geltung: Diese Zentralunterscheidung wird bei jeder anderen Entscheidung für das Sensemaking zu Rate gezogen, ohne dabei explizit zu werden. Ich gehe also davon aus, dass das zentrale Schema alle anderen Wissensstrukturen konfiguriert und beeinflusst. Organisationales Sensemaking kann man als eine Programmierung der organisationalen Wissensstrukturen bezeichnen. Ist diese Programmierung erfolgreich, wirkt sich dies wieder auf die Kommunikation aus. Es wird dann tatsächlich so entschieden und gehandelt, dass das Ziel Weltmeisterschaft greifbarer wird. Diese Kommunikation hat zur Folge, dass das Ziel noch stärker Wahrgenommen wird, was wiederum weitere Entscheidungen zur Folge hat, etc. Die Organisation konstruiert sich den Weg zum Erfolg im Gleichschritt von Kommunikation und Wahrnehmung, indem die nicht reflektierbaren blinden Flecken als positive Verstärker wirken. Sie kann nicht mehr anders, als sich auf auf das Ziel des Gewinns der Weltmeisterschaft auszurichten.
5.3 Bedeutung von Interaktion
Da solch ein Ziel nicht voraussetzunglos im Rahmen formaler Strukturen beschlossen werden kann, wird es typischerweise in kleinen, informalen, auf Interaktion beruhenden Kreisen entwickelt. Denn gerade in der Interaktion, die sich im Gegensatz zu anderer Kommunikation durch wechselseitige Wahrnehmung auszeichnet, ist erstens der Annahmedruck wesentlich höher, und zweitens ist es durch ihre Konstitutionsbedingung wesentlich leichter Wahrnehmung in Kommunikation zu transformieren und dadurch in die Organisation einzuspeisen (vgl. Luhmann 1975). Dies erfordert zwar wesentlich mehr Kapazitäten, ist dafür aber wesentlich wirkungsmächtiger als eine Entscheidung, die auf formalen Wegen durchgesetzt wurde. Dass gerade die informalen Interaktionsstrukturen, abseits der formalen Wege, in der konkreten Vorbereitung auf die Weltmeisterschaft besonders ausgeprägt sind, zeigt die Dokumentation Sönke Wortmanns eindrucksvoll.
So zeigen viele eingefangene Situationen, dass die Mannschaft ?füreinander da ist? (32.), ?Respekt voreinander? (46.) hat und immer darauf bedacht ist ?miteinander zu spielen? (52.). Die mittlerweile eingelebten und geradezu selbstverständlichen Interaktionssituationen werden deutlich, wenn Michael Ballack in der Taktikbesprechungen miteinbezogen wird (76.). Dass sich die Mannschaft nun auf Interaktionsstrukturen, welche auch in Krisensituationen beim Ausfall formaler Hierarchie funktioniert, verlassen kann, verdeutlicht die mittlerweile berühmte Szene zwischen den ewigen Konkurrenten Oliver Kahn und Jens Lehmann vor dem Elfmeterschießen gegen Argentinien (68.). Auch die Einrichtung des Quartiers in Berlin ist unter diesen Gesichtspunkten geplant worden. Es wurden ?Lounges? eingerichtet, wo jeweils die Spieler, Trainer und Betreuer zusammenkommen können, damit nicht jeder für sich auf seinem Zimmer bleibt (13.). Bezeichnenderweise gab es dort von Beginn an eine Vermischung, sodass Interaktion trotz oder geradezu ohne Hierarchie stattfinden konnte. Ein beeindruckendes Beispiel für zwanglose, von Hierarchie befreite Interaktion liefern die Scherze von Sebastian Schweinsteiger mit dem Pressesprecher Harald Stenger während einer kurzen Autofahrt (58.). Zusammengefasst erinnert dies an die alte Maxime Sepp Herbergers: ?Elf Freunde müsst ihr sein.?
6. Fazit
Will man die Bedingungen des (Miss-)Erfolgs organisationalen Wandels einer Fußballmannschaft beschreiben, so reicht es nicht aus, sich nur auf die formalen Strukturen der Organisation zu fokussieren. Nimmt man bei strikter Einhaltung der Trennung von Kommunikation und Bewusstsein die impliziten Wissensstrukturen in die Analyse mit auf, ergeben sich wesentlich erklärungsreichere Beschreibungen der Organisation und Bedingungen für erfolgreichen strukturellen Wandel, welche die Organisation selbst nicht sehen kann. Dass das Bild dabei an Komplexität gewinnt, hat zwar Vorteile für die Erklärungskraft, aber Nachteile für diejenigen, die einfache Handlunganleitungen für Erfolg erwarten.
Trotzdem lassen sich entlang der drei Entscheidungsprämissen einige Bedingungen festhalten, die erfolgversprechend sind.
1. Hierarchie wird nur dann erfolgreich wirken, wenn es Räume für hierarchiefreie Interaktion gibt.
2. Personal wird nur dann erfolgreich in Organisation wirken, wenn auch die Persönlichkeit in der Interaktion zur Geltung kommen kann.
3. Taktik und Training werden nur dann erfolgreich sein, wenn sie das Trainieren, was sie nicht trainieren können: Situationen, die sie nicht vorgesehen haben, in denen nur noch Interaktion zur Verfügung steht.
Literatur
Friedrichsen, Mike / Michael Löhne (2007): Fußball und Wirtschaft ? Genialität oder Wahnsinn? In: Jürgen Mittag / Jörg-Uwe Nieland (Hrsg.): Das Spiel mit dem Fußball. Essen: Klartext, 553-571
Hiller, Petra (2005): Organisationswissen. Wiesbaden: VS Verlag
Luhmann, Niklas (1975): Einfache Sozialsysteme. In: ders.: Soziologische Aufklärung 2. (zitiert nach der 5. Auflage, 2005). Wiesbaden: VS Verlag, 25-47
Luhmann, Niklas (1990): Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 11-59
Luhmann, Niklas (1995a): Probleme mit operativer Schließung. In: ders.: Soziologische Aufklärung 6. (zitiert nach der 2. Auflage, 2005). Wiesbaden: VS Verlag, 13-25
Luhmann, Niklas (1995b): Die operative Geschlossenheit psychischer und sozialer Systeme. In: ders.: Soziologische Aufklärung 6. (zitiert nach der 2. Auflage, 2005). Wiesbaden: VS Verlag, 26-37
Luhmann, Niklas (1997): Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1. Bd. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 92-120
Luhmann, Niklas (2006): Organisation und Entscheidung. 2. Auflage. Wiesbaden: VS Verlag
Neumann, Gabriele (Hrsg.) (2003): Fußball vor der WM 2006. Spannungen zwischen Wissenschaft und Organisation. Köln: Sport und Buch Strauß
Internet: (Stand: 27. Juni 2007)
Deutscher Fußballbund (DFB):
http://www.dfb.de/index.php?id=500014&no_cache=1&tx_dfbnews_pi1[showUid]=2836&tx_dfbnews_pi1[sword]=&cHash=399e1e912f
Intelligente Äußerungen rund um den Fußball:
http://www.ja-gut-aeh-ich-sag-mal.com/
Wikipedia, die freie Enzyklopädie:
http://de.wikiquote.org/w/index.php?title=Fu%C3%9Fball&oldid=266879
Film:
Wortmann, Sönke (2006): Deutschland ? Ein Sommermärchen. Leipzig: Kinowelt Home Entertainment
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