Früher einmal konnte ich nicht gut verlieren. Eigentlich ging verlieren gar nicht. Also habe ich irgendwann beschlossen nur noch zu gewinnen. Dafür musste ich mich zwar ziemlich anstrengen, aber das Ärgern blieb aus. Heute sehe ich die Dinge in der Regel wesentlich entspannter. Ich kann behaupten, mir eine recht robuste Frustrationstoleranz zugelegt zu haben. Aber in manchen Situationen brechen meine alten Muster wieder durch. Aber warum spreche ich eigentlich von meiner eigenen Frustrationstoleranz? Dazu muss ich gar nicht so weit ausholen.Der Anlass, der mich dazu nötigte, mich mit meiner eigenen Frustrationstoleranz auseinanderzusetzen, ist natürlich das Spiel der Hertha gegen Arminia Bielefeld gewesen. Kurz die Fakten: 62,5% Ballbesitz, 27:6 Torschüsse, davon nur 16:4 neben das Tor, 535:310 Pässe, 11:3 Ecken, 8:19 Fouls sind die Zahlen, die belegen wie dominant, spielbestimmend und offensiv Hertha gespielt hat. Eigentlich ein Grund zum Jubeln. Doch es ist eben nur Statistik, weil am Ende bei der wichtigsten Zahlenfolge ein 1zu1-Unentschieden steht! Und schon sind wir wieder beim Thema: Meiner Frustrationstoleranz.
Ich musste erst einmal lernen, auseinander zu halten, was bei meiner Reaktion auf dieses unverschämte Spielergebnis alles zusammengekommen ist. Wie in so vielen Fällen hilft auch hier die Wikipedia:
Die Frustrationstoleranz ist die individuelle Fähigkeit, Enttäuschungen zu kompensieren oder Bedürfnisse aufzuschieben, ohne dabei in Aggression oder Depression zu verfallen.
Das ist mir am Samstag überhaupt nicht gelungen. Ich war sauer und traurig. Und das aus verschiedenen Gründen. Die durch Frust entstandene Aggression kann man nämlich auf drei Arten auslassen: impunitiv (leugnen), intropunitiv (nach innen) oder extrapunktiv (nach außen). Die verschiedenen Wege machen die Sache nicht unbedingt besser, weil die Kanäle ja nicht immer offen stehen. In meiner Situation waren fast alle Schotten dicht, was nicht unbedingt zur inneren Ausgeglichenheit beigetragen hat. Was war also los?
Impunitiv musste ich meine Aggression verarbeiten, weil ich das Spiel in der Kneipe gesehen habe. In einer Bielefelder Kneipe als einziger Hertha-Fan! Ich konnte mir unmöglich die Blöße geben und zeigen, dass ich schon vor dem Ausgleichstreffer wegen der vielen vergebenen Torchancen auf Hundertachtzig war.
Intropunitiv habe ich die Energie verarbeitet, weil mir klar wurde, dass das Bier, das ich während des Spiels trinken würde, teurer wird als ein Premiere-Abo im Juli gewesen wäre. Da konnte ich mich dann so richtig über mich selbst ärgern. Wäre ich gemütlich zu hause gewesen, hätte ich wenigstens in meinem Wohnzimmer randalieren können. So blieb mir nur die Möglichkeit, mich an den Tresen zu klammern und mich innerlich selbst zu kasteien.
Einen extrapunitiven Impuls konnte ich grad noch so unterdrücken. Es gab da eine Frau mittleren Alters, die mit ihrem Mann ganz in meiner Nähe saß. Beide schauten sie das Spiel, wobei sie eine Art von vermeintlich fußballinteressierter Mensch ist, den ich verabscheue. Fußball lebt von den Emotionen, die beim Zuschauer entstehen. Auch in der Kneipe. Vergebene Torchancen, Fehlentscheidungen, Paraden und andere spannende Situationen werden mit emotionalen Reaktionen kommentiert. Typisch sind dabei undefinierte Laute, Stampfen, Auf-den-Tisch-Schlagen und andere weniger kultivierte Verlautbarungen. Diese Frau quittierte jedoch jede einzelne dieser Reaktionen mit einem Gesichtsausdruck des Unverständnisses, gewürzt mit einer klitzekleinen Prise Verachtung. Ihr wisst nun wahrscheinlich, was ich meine und habt solche Situationen als engagierte Fußball-Gucker schon erlebt. Mich bringt das immer total auf die Palme, vor allem, weil ich mich dann frage, warum sie überhaupt hier sitzt. Verschärft wurde die Situation für mich persönlich noch dadurch, dass ich als einziger Herthaner in der Kneipe ziemlich antizyklisch und gegen den Rhythmus der anderen Zuschauer das Spiel kommentierte, weil ich schließlich für die andere Mannschaft fieberte. Das führte jedoch dazu, dass ich für jede einzelne meiner Reaktionen auf das Spiel wiederum von dieser Frau mit ihrem Gesichtsausdruck bedacht wurde. Ich werde jetzt noch furchtbar wütend, wenn ich die Szenen für das Schreiben noch einmal vor meinem geistigen Auge ablaufen lassen. Arrrgh!
Schlussendlich bezahlte ich zwei Minuten vor Abpfiff mein Bier und ging direkt nach dem Spiel ohne den Blick vom Fußboden zu heben auf direktem Weg hinaus zur Tür, setzte mich auf mein Stahlross und ritt Richtung Horizont. In den Weiten der Prärie fand ich dann irgendwann wieder zu mir, schrieb diesen Text und habe nun auch wieder meinen inneren Frieden erreicht. Einmal tief ausatmen und sich darüber freuen, dass die Bundesliga mich bereits am zweiten Spieltag voll in ihren Bann gezogen hat. Wie schön!
Keine ähnlichen Beiträge.
10 Kommentare
Vielleicht hättest Du besser den Weg ins Stadion angetreten…36.302 Zuschauer zum Saisonauftakt sind nämlich richtig peinlich!
Oder gehörst Du auch zu denen, die nur den Weg ins Stadion finden, wenn die Bayern kommen? Hertha TV und/oder premiere machen Dich leider nicht wirklich zu einem “Supporter”…
Oder traust Du dich am Ende gar nicht ins böse, böse neoklassizistische Rund?
Fragt einmal mehr sehr neugierig
Dirk
Wenn du aufmerksam gelesen hättest, dann wäre dir aufgefallen, dass ich in Bielefeld in einer Kneipe gesessen habe. Ich wohne derzeit hier und der Weg ins Olympiastadion ist dann doch ein bisschen zu weit. Und wer hat eigentlich behauptet, ich wäre ein “Supporter”?
http://11freunde.de/bundesligen/113794/die_hassen_meine_stadt
Danke, den Text habe ich schon gesehen, aber noch nicht richtig gelesen. Das schaff ich erst heute Abend. Klingt aber sehr interessant.
Lies mal, lohnt sich: “Ich muss hier raus, bevor ich das Trikot von Markus Schuler fange…”
Wie ist es Deiner Frustrationstoleranz nach dem neuen Spieltag ergangen…..?
Ach, das war OK. Die Abschlachtung war vorhersehbar und insofern verkraftbar. Daher bin ich überhaupt nicht frustriert. Ganz im Gegenteil: Gelangweilt!
Wie hieß nochmal der Film mit Bill Murray?
Nee, nee, nee! Soweit darf es nicht kommen. Dafür bin ich überhaupt nicht belastbar genug.